09 Dezember 2011

Sonja – eine Begegnung

Bei unserer ersten Begegnung zeigt sich mir folgendes Bild: Eine kleine, zierliche und stark abgemagerte Frau liegt etwas gekrümmt in ihrem Bett, gelagert mit Kissen, die viel zu groß erscheinen. Ich komme mir seltsam stark vor und habe das Gefühl, ich muss diese Person schützen. Doch das ist nicht einfach, da sie das Ungleichgewicht sehr wohl erkennt. Sie möchte doch so gerne selbständig und stark sein, quält sich, spricht verwaschen und unverständlich. Beim gemeinsamen Musizieren hat Sonja kaum die Kraft, einen Schlägel zu halten. Schwierige Themen vermeidet sie, weint dann und manchmal strampelt sie vor Wut ihre Decke weg. Doch es gibt auch die Sonja, die viel lacht, die es mag, wenn lustige Dinge gesagt werden, die Kinderbücher liebt und einen Sinn für Situationskomik hat.

Einfach da sein, gemeinsam Zeit verbringen, "abhängen", nicht alleine sein müssen, Musik hören und lediglich das nötigste reden – so verstehe ich die unausgesprochene Abmachung zwischen Sonja und mir. Ein zeitliches Limit gibt es nicht, nur die große Freiheit im doch so begrenzten Rahmen. Bereits ab der ersten Begegnung spielt die Musik der Beatles eine große Rolle. Da Sonja selbst keine Lieder einfallen, schlage ich ihr einige vor, und sie entscheidet dann, welches gesungen wird. Obwohl ich immer wieder benenne, dass wir beide singen/summen, um sie mit einzubeziehen, ist es so, dass ich alleine spiele/singe, dabei aber in einem ganz engen Blick-Kontakt mit ihr stehe. Die bekannten Melodien von "Let It Be", "Yesterday" und "All My Loving" schallen durch den Raum. Besonders das Lied "I Want To Hold Your Hand" berührt Sonja sehr. Anlässlich der Worte an ihren Freund erinnert, erzählt Sonja von ihm.

Sie nimmt an, dass er im Stadtteil St. Pauli lebt, doch er meldet sich nicht bei ihr und sie hat auch keine Telefonnummer von ihm. Sie weint und erinnert mich mit ihrem tränenüberströmten Gesicht an ein kleines Kind. Es rührt mich an, ich habe einen Kloß im Hals. Unser beider Ohnmacht wird deutlich spürbar. Ich frage sie, was sie ihm denn gerne sagen will. Sie spricht davon, dass sie doch nur ein Lebenszeichen von ihm haben will. Mir kommt der Gedanke, dass sie ihm vielleicht ein Lebenszeichen geben will. Als sich nach einigen Wochen herausstellt, dass der Freund im Gefängnis ist, sagt Sonja mehrmals: "Wer nicht hören will, muss hören!", meint wohl jedoch "fühlen". Sonja schreibt ihm schließlich einen Brief … und wartet!

In den folgenden Wochen lassen Sonjas Kräfte nach, sie wird immer schwächer und ist oft müde. Immer öfter lege ich die Instrumente beiseite, halte Sonjas Hand oder streiche ihr vorsichtig über Stirn und Kopf, summe mehr als dass ich singe. Mit viel Aufwand wird ein Besuch von Sonjas Freund organisiert, es folgen auch kurze Telefonate. Eigentlich darf er bei seiner mit einer Gefängnisstrafe verbundenen Therapie gar keinen Kontakt zu Menschen "von früher" haben. Doch es gelingt, nach Gesprächen zwischen Sozialarbeiterin und Psychologin, eine Ausnahme zu vereinbaren - für Sonja. Sie ist glücklich.


Sonja starb wenige Wochen nach dem Wiedersehen mit ihrem Freund. Der Prozess der Auseinandersetzung dieser Begegnung zwischen Sonja und mir beschäftigte mich auch nach ihrem Tod. Es steht mir nicht zu, über das Leben anderer zu urteilen. Und eine Einteilung in gut und schlecht, geglückt und nicht geglückt scheinen angesichts der Einmaligkeit eines jeden Lebens allzu plakativ. Sonja kennen lernen zu dürfen hat mir einmal mehr gezeigt, wie in der Akzeptanz und Annahme der Anderen in ihrem So-Sein eine Haltung der Demut vor der Einzigartigkeit menschlicher Schicksale entstehen kann. In der Begegnung mit ihr, die angesichts des Todes stattfand, wurden eigene Werte relativiert und Bewertungen in Frage gestellt.

Die Geschichte von Sonja und mir endet mit einem Zitat von Gotthelf Eisenberg, Pfarrer im Ruhestand, aus einer von ihm gehaltenen Grabpredigt: "Unser Leben ist ein Fragment – mal mehr, mal weniger. Wir hinterlassen Bruchstücke und offene Enden, wir hinterlassen ungelebtes Leben und ungesagte Worte. Wir hinterlassen ungeweinte Tränen und ungeliebte Liebe. Wir bleiben anderen manches schuldig, und andere bleiben uns manches schuldig. Es fällt uns schwer, anzunehmen, dass wir endlich sind. Guter Gott: Gib uns ein Empfinden für die Kostbarkeit der uns geschenkten Zeit und lass uns Deine Nähe spüren in allen Anfängen, in der Mitte und an den Rändern des Lebens."

(aus: Die Lehrer unseres Lebens - Geschichten über Menschen,
die Spuren hinterlassen haben, Hrsg. Klaus Leidecker)


Eingereicht von:


Judith Sonntag
Diplom-Musiktherapeutin
www.AlteWacheSonntag.de

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Herzlichen Dank für Deine Worte!