03 Dezember 2011

Zeitlos


© Andrea Riek

Heute stand ich vor dem geöffneten Sarg einer alten Dame. Ich hatte sie vor über einem Jahr kennen gelernt, als ihre 60-jährige Tochter verstarb. Wenig später saß ich ihr am Tisch ihres Apartments gegenüber, während sie von ihrem Leben sprach. Nein, unerfüllte Wünsche ließ sie nicht zurück. Sie erzählte von dem bewegenden Moment, als sie mit ihrer Familie auswanderte und zum ersten Mal die Freiheitsstatue erblickte. Sie sprach von ihren beiden Kindern, stellte fest, dass ihr Mann einen recht schwierigen Charakter besessen hatte.

Nun stand ich also vor ihrem Sarg und erinnerte mich an unser intensives Gespräch von damals.

Ein schönes Perlenarmband schmückte ihr abgemagertes Handgelenk.
Alles war still, wirkte friedlich und zeitlos und ließ mich in Gedanken versinken.

Ich betrachtete ihr schmales Gesicht und versuchte Ähnlichkeiten zu entdecken mit dem Gesicht, welches mich vor einem Jahr mit offen blickenden, braunen Augen und einem bezaubernden Lächeln bedachte. Alles Leben war aus ihrem Körper entwichen.

Nichts erinnerte an die schelmisch blickende alte Dame, die sich die Welt durch eine rote Brille angeschaut und geduldig mit ihrem Rollator gegen den Teppich angekämpft hatte.

Welche unerfüllten Träume habe ich?

Um mich herum war immer noch alles still, wirkte friedlich und zeitlos.


Eingereicht von:


Andrea Riek
Reden über das Leben
www.andreariek.de

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